Über Begegnungen, Zwischenräume und Risotto
Bei einer lieben Freundin habe ich das Folgende gesehen: „Du und ich: wir sind eins. Ich kann dir nicht wehtun, ohne mich zu verletzen.“
Im Original: „We are one, you and I. I can not harm you, without harming myself.“
von Mahatma Ghandi.
Ein schönes Zitat und auch eine wichtige Sicht auf das Miteinander, ich habe so einige Zeit darüber nachgedacht … und … sehe da(s) etwas anders.
Wir begegnen uns in der Familie, im Beruf, bei Freunden und noch an vielen anderen Orten, wir begegnen neuen Situationen und manchmal begegnen wir uns sogar selbst. Ich habe mich in diesem Jahr 2022 aus unterschiedlichen Gründen auf Aspekte von Aufklärung, gesellschaftlichen Entwicklungen und artverwandten Themen konzentriert und dazu kleine Texte wie diesen geschrieben. Dabei entwickelte sich geraume Zeit kein Gefühl, wo diese Reise denn so hingeht, heute stellt sich das wesentlich deutlicher dar.
Ein – für mich – sehr inspirierender Mensch hat in einem Dialog mit mir in GROßBUCHSTABEN zum Ausdruck gebracht: „Herr Leist, Sie nehmen sich VIEL zu viel vor“. Über die Empfehlung habe ich lange nachgedacht. Es handelte sich dabei um eine wertvolle und anstrengende Begegnung mit diesem inspirierenden Menschen. Eine bewusste Begegnung ist – in meiner Beobachtung der letzten Jahre – etwas ganz Eigentümliches, etwas ganz Besonderes. Eine solche Begegnung ermöglicht es einem, viel über andere Menschen und vor allem auch über sich selbst zu lernen. Ich bin leider nicht in Lage, zu beschreiben, was das Besondere einer solchen Begegnung ausmacht – ich habe da nur einen „Verdacht“, eine „Arbeitshypothese“. Es ist nicht der eine oder der andere Mensch, nicht „du“ oder „ich“ – es ist natürlich auch nicht „wir hier“ oder „die da“.
Wichtig ist, was dazwischen ist.
Im Laufe des Jahres sind mir immer wieder solche Zwischenräume aufgefallen.
Wertvolle Rückmeldungen oder Spiegelungen von Anderen sind nur durch Zwischenräume möglich. Fehlende Zwischenräume bei Spiegelungen verbietet – nebenbei bemerkt – schon die Physik. Gleichzeitig fällt es uns in der Tat schwer, die Zwischenräume wahrzunehmen, was wohl nicht nur ein physikalisches Phänomen ist. Häufig sieht man nur „den Anderen“ oder man sieht „ausschließlich sich“.
Nachrichten, die wir tagtäglich hören, handeln hauptsächlich von einseitigen Schwierigkeiten und Problemen.
Beschreibungen von Problemen wie aus Krankenhäusern betrachten in meinem Verständnis die Zwischenräume nicht. Der Raum zwischen Patienten und dem Team ist der Platz für die – im wahrsten Sinne des Wortes – WESENtlichen Entwicklungen. Dieser Raum wird aktuell immer kleiner, damit werden folglich auch die Entwicklungsmöglichkeiten zunehmend auswegloser.
Nach erfolgreicher Operation am Herzen spreche ich aus eigenen Erfahrungen. Ich erinnere mich an den Arzt in seiner Ausbildung zum Facharzt, der trotz der großen Arbeitsbelastung an einem Wochenende genau einen solchen Zwischenraum zwischen Arzt und Patient gesehen und genutzt hat. Er hat sich mit mir gemeinsam mein Herz angehört und mit großen Professionalität und authentischen Offenheit über seine persönlichen Eindrücke bei meiner Operation gesprochen. Das ist mir heute noch in sehr eindrücklicher Erinnerung und keinesfalls dem „normalen“ Arbeitsalltag geschuldet, was da „zwischen“ uns passiert ist.
Ich kann – nach vielen Jahren des Übens – ein gutes Risotto zubereiten. Was ich dabei früh gelernt habe: nicht der Topf ist allein entscheidend, nicht die Zutaten sind allein ausschlaggebend, sondern das Zusammenspiel exakt am Zwischenraum – genau am Topfboden. Zwischen Hitze und Reis passiert das kleine Wunder, die geschmackliche Wertschöpfung, auch physikalisch/chemisch durch Maillard begründbar.
Das bedeutet auch, nicht ich habe den guten Geschmack „produziert“, sondern er ist in diesem Zwischenraum entstanden – durch mein persönliches Zutun. Das ist, was ich in den „Risotto-Jahren“ gelernt habe und selbst wissenschaftlich ist noch lange nicht alles verstanden, was da so alles passiert. Toll.
Zwischenräume gibt es auch woanders: Menschen sterben, Häuser brennen ab, Löcher entstehen – sowohl in unserem direkten Umfeld als auch weit entfernt in anderen Ländern. Es entstehen aus solchen Verlusten jedoch auch neue Freiräume. Verstehen wir diese Freiräume doch als Zwischenräume. Dort ist eine Entwicklung wichtig und noch viel wichtiger ist, wie diese Entwicklung aussieht. Eine gute Entwicklung kann diese Freiräume wieder füllen, eben die Zwischenräume, die entstehen, wenn Familien oder Freunde einen nahestehenden Menschen, wesentliche Teile ihrer Lebensgrundlage oder eine Arbeitsstelle verlieren.
Solche Zwischenräume auf Kosten von Anderen zu füllen, erscheint mir sehr zweifelhaft. Ich sehe, dass einzelne Menschen, Unternehmen, Organisationen und ganze Länder „einfach“ Platz für sich beanspruchen. Platz ist meines Erachtens nicht mit Zwischenraum zu verwechseln. Den Topf beliebig zu vergrößern macht das Risotto keinesfalls wertvoller oder schmackhafter, es beachtet nicht das WESENTliche, was zwischen Zutaten und Topf passiert.
Dazu gehört auch, dass (im beruflichen Beispiel) Menschen aus dem Management diese Zwischenräume erkennen und verantwortlich mit den Gestaltungsmöglichkeiten umgehen. Sinnvolles, gemeinsam überlegtes und zielgerichtetes Handeln ist für mich so viel mehr, als einfach Platz zu okkupieren. Wachstum um jeden Preis erkennt nicht die Bedeutung der Zwischenräume. Gute, offene Kommunikation ist ein guter Indikator für das Erleben von Zwischenräumen und schafft darin die Möglichkeit der Entwicklung aufeinander zu. In der kommenden Zeit werde ich in meiner beruflichen Arbeitsumgebung auf diese Überzeugung deutlicher hinweisen.
Um in Zukunft verschiedene Themen besser bewegen zu können, brauche ich mir – ausgehend von diesen Überlegungen – gar nicht zu viel vorzunehmen. Es wird wichtiger werden, die Zwischenräume wahrzunehmen, diesen Umstand für alle Beteiligten deutlicher zu machen und dieses geschickt zu nutzen.
Nach reichlicher Überlegung: ich denke, ich nehme mir nicht zu viel vor. Die Ergebnisse dieses Jahres – in diesem kurzen Text zusammengefasst – machen mir vieles deutlich klarer und lassen mich erstaunlich gelassener auf viele aktuelle Themen schauen. Danke für die Möglichkeit, diesen Gedanken in einem der Zwischenräume entwickeln zu können. Begegnungen sind dabei selbstverständlich nicht immer für alle Beteiligten gleich, es setzt sowohl die Bereitschaft als auch die Fähigkeit dafür voraus, meines Erachtens gilt das auch für das Wahrnehmen und die Nutzung von Zwischenräumen.
Mit dieser – für mich sehr hilfreichen – Erkenntnis möchte ich diese Etappe der Reise schließen und danke allen Begleitern und der italienischen Küche sehr für entstandene Zwischenräume.